Aktuell

Vereinsrecht, Art. 75 ZGB: Unzulässigkeit schriftlicher Mehrheitsentscheidungen ohne Grundlage in den Statuen, Rechtsschutzinteresse auf die Rechtmässigkeit korporativen Lebens, Rechtsverwirkung durch mangelnde Rüge und die Frage nach der Erheblichkeit rechtmässigen Alternativverhaltens (BGE 132 III 503 vom 8. Juni 2006).

Es ist eigentliche eine Selbstverständlichkeit, dass sich ein Verein bei seinen Entscheidungen in den vereinsinternen Gremien neben dem Gesetz auch und insbesondere an seine eigenen Statuten zu halten hat, will er nicht zudem Gefahr laufen, dass solche Entscheidungen nach Art. 75 ZGB erfolgreich angefochten werden. Der vorliegende Entscheid zeigt beispielhaft auf, unter welchen Voraussetzungen eine solche Klage Erfolg hat.

Ein schweizweit orientierter Verband ist als Verein konstituiert. Er verfügt über fachliche und örtliche Sektionen, deren vereinsmässige Willensbildung in Delegiertenversammlungen stattfindet. Nach den Statuten des Vereins ist zur Änderung der Statuten mit qualifizierter Mehrheit der Beschluss einer Delegiertenversammlung erforderlich, über den dann in der Generalversammlung abzustimmen ist. Der Zentralvorstand des Vereins holte aber dessen ungeachtet eine schriftliche Beschlussfassung der Delegierten über eine Statutenänderung im Zirkularverfahren ein und machte diesen Beschluss in der folgenden Generalversammlung zum Traktandum. Die Abstimmung ergab mit grosser Mehrheit bei 11 Nein-Stimmen die beantragte Statutenänderung. Die rechtzeitig eingereichte Anfechtungsklage eines Vereinsmitgliedes wurde in erster Instanz abgewiesen, aber in zweiter Instanz gutgeheissen. Die Berufung des beklagten Vereins hat das Bundesgericht abgewiesen.

Man fragt sich augenreibend, was nicht nur die Verantwortlichen des Vereins, sondern jedes zustimmende Mitglied wohl geritten haben mag, sehenden Auges die eigenen Statuten mit Füssen zu treten.

Das Bundesgericht hat sich zunächst mit den Formalien, der Aktivlegitimation und der Anfechtungsfrist befasst. Hinsichtlich der Aktivlegitimation hat es darauf hingewiesen, dass das klagende Mitglied, das, wie es Art. 75 ZGB ausdrücklich verlangt, dem angefochtenen Beschluss nicht zugestimmt haben darf, durch das Anfechtungsrecht nicht nur gegen die unmittelbare Verletzung seiner Mitgliedschaftsrechte durch die Mehrheit geschützt ist, sondern darüber hinaus auch die Rechtmässigkeit des korporativen Lebens als Schutzgut geltend machen kann, es besteht also staatlicher Rechtsschutz dahingehend, dass in Vereinen statuten- und gesetzmässig alles mit rechten Dingen zugeht. Dieser Umfang des Rechtsschutzes steht ausdrücklich in Art. 75 ZGB, die nahtlose Praktizierung durch das Bundesgericht (mit Zustimmung der Literatur) ist indes so selbstverständlich nicht. Hier liesse sich bei der Frage nach dem Rechtsschutzbedürfnis der jeweils klagenden Person und der vom Bundesgericht bei der Voraussetzung der Ausschöpfung des vereinsinternen Instanzenzuges herangezogenen ratio legis (dazu sogleich) auch eine engere Gesetzesauslegung begründen.

Bei der Frage der Anfechtungsfrist von 30 Tagen hat das Bundesgericht erwogen, ob diese Frist nicht bereits mit dem fehlerhaft zustande gekommenen Beschluss der Delegiertenversammlung begonnen habe. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 75 ZGB hat ein Vereinsmitglied zunächst den vereinsinternen Instanzenzug auszuschöpfen, bevor es den staatlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann. Hintergrund ist die ratio legis, die Vereine ihre internen Angelegenheiten möglichst eigenständig bewältigen und korrigieren zu lassen und erst vereinsintern nicht mehr weiterziehbare Beschlüsse der Anfechtungsmöglichkeit vor staatlichen Gerichten auszusetzen. Da es vorliegend der Generalversammlung freigestanden hatte, auf den fehlerhaft zu Stande gekommenen Beschluss der Delegiertenversammlung nicht einzutreten und damit korrigierend tätig zu werden, hat das Bundes-gericht den fehlerhaften Beschluss der Delegiertenversammlung lediglich als Vorfrage zu dem Beschluss der Generalversammlung angesehen, der rechtzeitig angefochten worden sei.

Interessanterweise hat das Bundesgericht auch die Frage geprüft, ob der Verfahrensmangel vereins-intern rechtzeitig gerügt worden ist. Der Grundsatz aus Art. 2 Abs. 2 ZGB, der offenbare Missbrauch eines Rechts finde keinen Rechtsschutz, erfordere, dass Verfahrensmängel, soweit erkennbar und behebbar, vor der Beschlussfassung zu rügen seien, anderenfalls das Anfechtungsrecht verwirkt sei. Damit wird dem Hinnehmen von Verfahrensfehlern, um später im Wege der Anfechtung die Entscheidung zu torpedieren, ebenso ein Riegel vorgeschoben wie der Unaufmerksamkeit der Beteiligten, die erst im Nachhinein realisieren, was da beschlossen worden ist. Es ist aus diesem Grund-satz das Gebot ableitbar, innerhalb des vereinsinternen Instanzenzuges alle Gesichtspunkte, die für eine Entscheidung eine Rolle spielen können, rechtzeitig zur Sprache zu bringen, will man nicht Gefahr laufen, später damit kein Gehör mehr zu finden. Es ist zu hoffen, dass Vereinsmitglieder dieses Problembewusstsein haben und bei Vereinsversammlungen mit der erforderlichen Aufmerksamkeit und dem Rügebewusstsein bei der Sache sind, andererseits, dass Mitglieder innerhalb der Gremien des vereinsinternen Instanzenzuges die Aufgeschlossenheit besitzen, vorgebrachte Rügen als Teil der Rechtmässigkeit des korporativen Lebens ernst zu nehmen und nicht als vermeintlich querulatorisch vom Tisch zu fegen. Im Hinblick auf beide vorgenannte Aspekte dürften leichte Zweifel nicht gänzlich von der Hand zu weisen sein, ob vor Ort verantwortungsvoll und gelassen miteinander umgegangen wird.

Nachdem das Bundesgericht durch eine entsprechende Feststellung der Vorinstanz, wonach ein Verwaltungsratsmitglied der Klägerin den fehlerhaften Antragsbeschluss gerügt hatte, auch diese Klippe umschifft hatte, hat es sich mit der inhaltlichen Frage befasst, ob der schriftliche Beschluss der Delegiertenversammlung wirksam gewesen ist.

Hierzu hatte der beklagte Verein in der Berufungsschrift an das Bundesgericht ausgeführt, dass ein Zirkularverfahren zur Beschlussfassung durch die Delegierten mangels einer entgegenstehenden Vorschrift in den Statuten zulässig gewesen sei. Die Annahme, im Zirkularverfahren sei die schriftliche Zustimmung aller Delegierten erforderlich, wie dies Art. 66 Abs. 2 ZGB vorsehe, sei bundesrechtswidrig.

Das Bundesgericht hält sich mit diesem (etwas fernliegenden) Einwand angesichts des klaren Wort-lautes in Art. 66 Abs. 2 ZGB („Die schriftliche Zustimmung aller Mitglieder zu einem Antrag ist einem Beschlusse der Vereinsversammlung gleichgestellt.“) sowie in Art. 63 Abs. 2 ZGB („Bestimmungen, deren Anwendung von Gesetzes wegen vorgeschrieben ist, können durch die Statuten nicht abgeändert werden.“) bemerkenswert lange und mit vornehmer Zurückhaltung auf. Die Analogie auf die Beschlussfassung in anderen Gremien des Vereins (Vorstand, Delegiertenversammlung) bedurfte nur eines kurzen Hinweises. Nicht eingegangen ist das Bundesgericht auf ein systematisches Argument. Wenn nach Art. 66 Abs. 2 ZGB die schriftliche Zustimmung aller Mitglieder dem Beschlusse einer Vereinsversammlung lediglich gleichgestellt ist, so handelt es sich um eine Fiktion. Weiterhin ist damit ein Regel-Ausnahme-Verhältnis dargestellt. Ausnahmen sind indes, sonst bildeten sie keine Ausnahme mehr, sondern die Regel, eng auszulegen. Es bedarf also einer klaren statuarischen Grundlage, will man sich in einem Verein die Möglichkeit eines zirkularen Mehrheitsbeschlusses eröffnen. Ein Verstoss gegen Art. 63 Abs. 2 ZGB bestünde nicht, weil Art. 66 Abs. 2 ZGB, wie das Bundesgericht zu Recht hervorhebt, keine Norm zwingenden Vereinsrechtes ist.

Abschliessend geht das Bundesgericht noch darauf ein, ob der Verfahrensmangel, der statutenwidrige Zirkularbeschluss der Delegiertenversammlung, das Ergebnis der Abstimmung bei der General-versammlung habe beeinflussen können. Abstrakter formuliert bedeutet dies, ob ein Verstoss sich auf das vorliegende Ergebnis ausgewirkt hat oder ob das Ergebnis nicht gleich geblieben wäre, hätte es diesen Verstoss nicht gegeben. Dieses Argument kennt man beispielsweise aus dem Schadensrecht und dem Strafrecht. Ungeachtet der verschiedenen Begrifflichkeiten, die hier verwendet werden (rechtmässiges Alternativverhalten,  Schutzzweck der Norm, Risikozusammenhang, Rechtswidrigkeits-zusammenhang u.a.m.) ist der Hintergrund dieser Fragestellungen etwas vereinfacht dargestellt gleich: Wenn das Ereignis auch bei pflichtgemässem Verhalten eingetreten wäre, soll eine Zurechnung des Erfolges ausscheiden. Das leuchtet im Grundsatz jedem ein. Die Einzelheiten sind (nicht nur terminologisch) in der Rechtslehre und in der Rechtsprechung umstritten.

Wenn ein Autofahrer nachts von hinten einen verkehrsgerecht fahrenden Radfahrer (mit funktionierendem Rücklicht) überfährt, kann er nicht dadurch entlastet werden, dass der Radfahrer (verkehrswidrig) kein Vorderlicht eingeschaltet habe. Dieses dient nicht dazu, ein Lichtsignal nach hinten zu geben (Schutzzweck der Norm). Im übrigen hätte es den Unfall nicht verhindert (Frage des rechtmässigen Alternativverhaltens). Man sieht allerdings sofort, dass es sich um eine hypothetische und bewertende Überlegung handelt und auch mit Wahrscheinlichkeiten operiert werden muss. Die Frage nach einer Kausalität des Verstosses kann vernünftig nicht gestellt werden (auch wenn dies terminologisch unkorrekt immer wieder erfolgt), weil eine hypothetische „Kausalität“ keine (reale) Kausalität ist.

Der beklagte Verein hat vorliegend zutreffend den Finger in die Wunde gelegt und argumentiert, dass im Hinblick auf die wenigen Neinstimmen bei dem Zirkularbeschluss der Delegierten auch bei der Durch-führung einer statutengemäss durchgeführten Delegiertenversammlung unter keinen Umständen mit einem anderen Ergebnis in der Generalversammlung hätte gerechnet werden können. Hierzu gibt es Rechtsprechung des Bundesgerichts (132 II 503 S. 513), wonach trotz Verstosses gegen die Statuten von einer Ungültigkeitserklärung dann abgesehen werden kann, „wenn diese als überspitzt formalistisch erschiene.“

Das Bundesgericht ist dieser reinen Erfolgsbetrachtung nicht gefolgt. Es hat im Anschluss an das oben erwähnte Rechtsschutzinteresse des klagenden Vereinsmitgliedes an der Rechtmässigkeit des korporativen Lebens die Bedeutung des Mangels und die Schwere des Statutenverstosses gewichtet. Dabei hat es auf die Willensbildung abgestellt, die in einer tatsächlich abgehalten Versammlung mit Rede und Gegenrede stattfinden könne. Ein weiteres Argument hat es in dem Umstand gesehen, dass der beklagte Verein in seinen Statuten gewisse Hürden aufgestellt hat, die vor einer Änderung der Statuten genommen werden müssten. Diese Hürden seien eine Sicherung zur Vermeidung von Zufalls-entscheidungen und überfallartigen Statuenänderungen und stellten eine Kontinuität der Vereins-verfassung sicher. Ein solcher Versammlungsgrundsatz dürfe mit dem Verbot des überspitzten Formalismus nicht in sein Gegenteil verkehrt werden. Anderenfalls würde auch Art. 66 Abs. 2 ZGB, das Zustimmungserfordernis aller Mitglieder, ausgehöhlt. Abschliessend hat es indes auch darauf abgestellt, dass vorliegend nicht gesagt werden könne, es sei kein anderes Ergebnis zu erwarten gewesen, weil die Höhe der Beteiligung an der Delegiertenversammlung und damit das Erreichen des erforderlichen Abstimmungsquorums offen sei.

Zusammengefasst bedeutet dies für ein Vereinsmitglied, das sich den Klageweg nach Art. 75 ZGB offenhalten will: Es muss einem statutenwidrigen Verfahren widersprechen und damit dem jeweiligen Entscheidungsorgan die Möglichkeit der Selbstkorrektur eröffnen. Dieser Widerspruch muss zu Beweis-zwecken protokolliert werden oder anderweitig beweisbar sein. Es darf dem Beschluss des Gremiums nicht selbst zugestimmt haben. Es muss den vereinsinternen Instanzenzug ausgeschöpft haben und muss letztlich die Frist von 30 Tagen nach Art. 75 ZGB für die Klagerhebung beachten.

Eine erfolgreiche Klage hat indes nur kassatorische Wirkung. Es wird dadurch der beanstandete Vereinsbeschluss lediglich aufgehoben. Das Zivilgericht entscheidet nicht selbst in der Sache. Die Sachentscheidung liegt erneut bei dem beklagten Verein, wobei dann hoffentlich die Statuten und das Gesetz im übrigen beachtet werden, auch wenn die Sachentscheidung letztlich gleich lautet (was bei reinen Verfahrensverstössen nicht ungewöhnlich sein dürfte). Dieser Gesichtspunkt sollte zu denken geben, ob es sich der Sache nach wirklich lohnt, das kostbare Gut Justizressource mit Vereinsinterna zu belasten.

28. April 2011

 

Das deutsche Bundesverfassungsgericht zur Verwendung der "gestohlenen" Steuerdaten aus Liechtenstein.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 9. November 2010 (2 BvR 2101/09) keineswegs, wie dies unzutreffend in weiten Teilen der Presseberichterstattung zu entnehmen war, entschieden, dass die Verwendung der in Liechtenstein rechtswidrig erlangten Daten über steuerlich relevante Sachverhalte von Steuerpflichtigen aus Deutschland verfassungsmässig zulässig sei. Entschieden hat eine Kammer, besetzt mit 3 Richtern, dass die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung (durch den Senat, besetzt mit 8 Richtern) angenommen werde, weil das Bundesverfassungsgericht die aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt habe und eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht vorliege. Befunden worden ist lediglich darüber, ob ein deutsches Gericht auf Grund dieser Daten den für eine Wohnungsdurchsuchung zur Auffindung weiterer Beweismittel erforderlichen Anfangsverdacht annehmen durfte. Nur dies hat das Bundesverfassungsgericht bejaht und dabei unterstellt, dass die Beschaffung und Weiterleitung der Daten unter Begehung von Straftaten erfolgt sei, ohne sich indes dazu abschliessend zu äussern. Es hat dabei auf bekannte Argumentationsmuster rekurriert. Rechtswidrig erlangte Beweismittel zögen nur ganz ausnahmsweise ein Verwertungsverbot nach sich. Die Strafprozessordnung verbiete es nur den Staatsorganen, bei der Beweisgewinnung gegen das Gesetz zu verstossen, nicht aber Privatpersonen.

Die Rolle des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND ist nicht weiter hinterfragt worden, ebensowenig wie die Folgetaten anderer „privaten Ermittler“. Das ist eine Schwäche des Beschlusses und eine vom Verfassungsgericht bestimmt nicht gewollte Einladung an die Ermittlungsbehörden, dort, wo ihnen gesetzlich die Hände gebunden sind, Geheimdienste und Privatpersonen (gegen Honorar) einzuschalten, und sich dann deren Erkenntnisse nutzbar zu machen. Ein derart bewusstes privatisiertes Ermittlungshandeln ist indes bereits nach geltendem Recht unzulässig. Für ein bewusstes Zusammenwirken von „Datendieb“, Geheimdienst und Staatsanwaltschaft hat das Verfassungsgericht allerdings keinen Anhaltspunkt gesehen. Auf die inzwischen bekanntgewordenen weiteren Fälle dieser Art ist es nicht eingegangen. Da sieht man die berühmten drei Affen winken und fragt sich augenreibend, wie deutlich ein derartiges Zusammentreffen eigentlich noch sein muss, um wenigstens dazu zu führen, dass hier die Darlegungs- und Beweislast umgekehrt wird, also die Staatsanwaltschaft in der Pflicht ist. Die Rechtsanwälte der Beschwerdeführer hatten erfolglos Einsicht in die geheimdienstlichen Unterlagen verlangt, was dem Verfassungsgericht lediglich die Bemerkung wert gewesen ist, dass die Verfassungsbeschwerde insoweit unzulässig gewesen sei, weil die Beschwerdeführer insoweit den Rechtsweg nicht ausgeschöpft hätten (als ob das schon vom Ansatz her erfolgversprechend gewesen wäre.).

Mit dieser Entscheidung ist das letzte Wort über ein Verwertungsverbot hinsichtlich der Schuldfrage der Beschwerdeführer nicht gesprochen, wenngleich eine gewisse Tendenz (durch 3 Richter) vorgegeben ist. Die Beschwerdeführer werden sich hoffentlich sich an die Europäische Menschenrechtskommission wenden (dort spielen Gesichtspunkte der Staatsräson eine geringere Rolle), schon um die Möglichkeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, eine gewisse Hygiene im Bereich der Strafverfolgung in Deutschland wiederherzustellen.

2. Dezember 2010

 

Nanny, Helmut Schmidt und die Meistersinger

Nun hat in der causa Nanny – Rita Fuhrer auch noch das Bundesgericht gesprochen (8C_211/2010 vom 19. August 2010), die ehemals beim Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich angestellte juristische Sekretärin erhält CHF 75'500, weil ihr ein weiteres Angestelltenverhältnis nicht zumutbar sei. Das bedeutet nach der Bewertung durch die Justiz: Kein Intendant Hartmann in Zürich!  So einfach ist es aber nicht.

Schon das Bundesgericht hat in weisem „judicial self-restraint“ lediglich festgestellt, dass das Verwaltungs-gericht Zürich kein Bundesrecht verletzt habe und die Entscheidung frei von Ermessensfehlgebrauch sei. Den Zusatz, dass eine andere Entscheidung auch möglich gewesen wäre, vermochte sich das Bundes-gericht allerdings nicht verkneifen, und das gibt durchaus zu denken. Dem somit subtil kritisierten Verwaltungsgericht Zürich sind ausweislich der schriftlichen Entscheidungsgründe die Brisanz und die besonderen Umstände dieses Falles als „Privatangelegenheit“ von Hartmann bekannt gewesen. Als solche kann man das durchaus sehen und das Recht und eine Verwaltungspraxis auch gleichermassen anwenden. Das schafft auch insoweit Rechtssicherheit, ein hohes Kulturgut. Die Frage ist allerdings, ob das juristische Gedankengut der Tellerrand ist, bei dem das Denken und Handeln aufhört.

Diese Problematik ist, soweit es die Kunst betrifft, im Opernhaus Zürich bei Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ zu erleben. Der Pedant der Regeln, Sixtus Beckmesser, der in der Sache zweifellos Recht hat, kommt dabei allerdings (und nicht nur meines Erachtens völlig zu Recht) schlecht weg. Er muss sich nämlich vorhalten lassen: „Wollt ihr nach Regeln messen, was nicht nach euer Regeln Lauf“. Damit wird die Frage gestellt, was mit Sachverhalten geschehen soll, für die die Regeln nicht gemacht worden sind. Dafür gibt es in der Oper auch eine Antwort, nämlich die Ausnahme von der Regel. Im Rechtsleben ist das nicht so einfach mit den Ausnahmen, das muss man, auch wenn man sich über das Ergebnis: Hartmann mit Nanny in Zürich am Schauspielhaus, von der Kunst her gesehen gefreut haben mag, dem Verwaltungs-gericht und der bemitleidenswerten juristischen Sekretärin (bei aller Beckmesserei) zu Gute halten.

Bei allem Zweifel, ob es nicht doch eine juristisch auch saubere Lösung für die Nanny-Frage gegeben hätte, hat sich der Kopf der Verwaltung für die Kunst als Ausnahme vom, so das Verwaltungsgericht Zürich, Recht entschieden und sich dafür entsprechend auch eingesetzt. Das ist nicht nur kunstsinnig und dem Wohle der Stadt dienlich gewesen (wie stünde Zürich denn in der weltweiten Kunstöffentlichkeit da, wenn das Engagement eines über die Grenzen hinaus bekannten und bedeutenden Intendanten an der Arbeitsbewilligung für die Nanny gescheitert wäre!), die Verantwortung dafür selbst zu übernehmen, ist bei Politikern, die lieber glatt durchs Leben gehen, eine leider wenig ausgeprägte Eigenschaft.

Diese führungsstarke Frau ist im übrigen in sehr guter Gesellschaft. Helmut Schmidt hat sich 1962 während der Flutkatastrophe in Hamburg als damaliger Polizeisenator (heute Innensenator) relativ wenig um Recht und Gesetz geschert, sondern ohne förmlichen Oberbefehl sogar mit Nato-Truppen sowie mit den örtlichen Hilfsdiensten den Rettungseinsatz koordiniert und durchgeführt. Das war nicht nur rechtswidrig, sondern sogar verfassungswidrig. Von einem Verfahren gegen ihn oder der Anzeige eines Mitarbeiters, das Verweilen im Dienst sei nunmehr unzumutbar geworden, ist nichts bekannt.

Solche Führungsqualitäten, anstehende Probleme zu lösen, sind allerdings wenig beliebt. Helmut Schmidt ist in laufender Legislaturperiode mittels der „Möchte-gern-18%-Partei“ durch einen Politiker ersetzt worden, der ein Meister der innerparteilichen Intrige und im Aussitzen von zu lösenden Problemen gewesen ist. Die deutsche „vox populi“ hat den bekanntlich mehrfach wiedergewählt.

Rita Fuhrer danke ich (abseits vom Verwaltungsgericht) auch für die Ermöglichung der Intendanz von  Matthias Hartmann und wünsche ihr gelegentlich im Opernhaus Zürich bei den „Meistersingern“ einen besonders vergnüglichen Abend.

26. August 2010